Trauma

Wir müssen die kritischen Stimmen jetzt hören

Psychologin im Interview

Michaela Huber: Ein Psychotrauma entsteht durch extremen Stress, der als existenziell bedrohlich erlebt wird und das Gehirn, ja die gesamte Persönlichkeit, zutiefst erschüttert und verändert. So entsteht eine seelische Wunde, denn nichts anderes bedeutet der Begriff „Trauma“: Wunde. Jeder Mensch kann ein gewisses Maß an Stress aushalten, ohne ein Trauma zu erleiden. Wenn dieses Ausmaß zu viel für uns wird, fängt unser Gehirn und Nervensystem an, überzureagieren. Dann geraten wir in emotionale Zustände, wo wir merken, jetzt kann ich nicht mehr vernünftig reagieren, sondern ich erstarre für längere Zeit oder ich fühle mich total unfähig zu reagieren und gelähmt, oder es übernimmt ein extrem starkes Gefühl wie Panik, Wut oder Verzweiflung, das ich zunächst überhaupt nicht in den Griff bekomme. Der Kern der traumatischen Erfahrung ist eine bodenlose Einsamkeit, etwas Unerträgliches aushalten zu müssen, obwohl man es nicht aushalten kann. Man kann dabei von vielen Menschen umgeben sein, aber man selbst kollabiert innerlich. Diese Einsamkeitserfahrung nimmt den Menschen das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit: Sie bekommen das Gefühl, ich kann überhaupt nichts daran ändern, dass mir etwas Unerträgliches geschieht. Viele Menschen überwinden diese Situation nach einer Weile gut, andere aber – und besonders diejenigen, die schon viele Vorbelastungen haben, entwickeln längerfristige Probleme.

Ein transgenerationales Trauma betrifft immer mehrere Generationen. Kinder und Eltern können zum Beispiel die Symptome der Eltern oder Großeltern ausleben – die Verzweiflung, Einsamkeitsgefühle, Wutanfälle und Ängste, die ihre Eltern unterdrückt haben, weil sie unbedingt „funktionieren“ wollten. Es ist zu erwarten, dass unsere Kinder und Enkel noch einmal austragen müssen, was jetzt in den Erwachsenen stattfindet, die noch um ihre Existenz und ihre Funktionstüchtigkeit kämpfen. Umgekehrt treten jetzt Belastungserscheinungen von früheren Generationen in uns auf, wenn es zum Beispiel um Kriegserfahrungen unserer Großeltern geht. Eine Belastungserfahrung kann unter Umständen in der nächsten und übernächsten Generation noch einmal psychosomatische Erkrankungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen auslösen.

Michaela Huber: Solidarität in einer Gesellschaft zu zeigen, dagegen hat ja niemand etwas, im Gegenteil. Aber es gibt auch eine andere Richtung, die jetzt aufscheint. Die Rechten sagen es direkt: Jetzt müsse man sich „in einen Volkskörper eingliedern“, alle individuellen Bedürfnisse zurückstellen. Und die gesamte Politik scheint dies zu propagieren: Wir alle, ja der gesamte Staat ist aufs Äußerste bedroht, und es darf einem nichts ausmachen, jetzt alles zu opfern an Freiheiten, ja die gesamte Existenz – weil man sich in den Dienst einer „höheren Sache“ stellen soll: den Krieg gegen den Feind zu gewinnen. Der Feind ist jetzt das Virus. Und da muss man doch gehorchen. Nur die eine, als einzig richtig ausgegebene Strategie wird dann auch durch die meisten Medien propagiert, Kritik kaum noch zugelassen, Zuwiderhandlung scharf geahndet. Das weckt in vielen Menschen Erinnerungen an totalitäre Zustände. Sie erleben, dass sie ideologisch und auch alltagspraktisch eingenordet werden auf diesen Krieg gegen diesen einen Feind, und man darf nur tun, was einem gesagt wird und etwas anderes auf gar keinen Fall, man bunkert sich mit Vorräten daheim also ein und erwartet den Einschlag in der Nähe oder gar, dass der Feind im eigenen Haus zuschlägt.

ZackZack: Diese Haltung zieht weite Kreise.

Michaela Huber: Diese ganze Kriegs-Metaphorik führt dazu, dass viele Menschen, insbesondere der älteren Generation, zutiefst eingeschüchtert und in Angst sind. Man merkt, wie schwarze Pädagogik sich wieder ausbreitet, also dass Menschen zum Beispiel andere denunzieren, die sich vermeintlich nicht hundertprozentig an die Regeln halten. Da wird plötzlich eine Anzeige erstattet, weil drei Menschen gemeinsam draußen auf der Straße sind. Da kommt die Polizei, da wird man überprüft, vielleicht verhaftet, weil man es gewagt hat, auf einer Bank zu sitzen und ein Buch zu lesen. All das erinnert ältere Menschen, aber auch Geflüchtete, die zu uns kommen, an das Verhalten in totalitären Staaten. Schon stabile Menschen haben damit zu tun, unter diesen Umständen ihre Gesundheit aufrecht und ihre Existenzangst in Schach zu halten – umso mehr jene, die es kennen, eingesperrt zu sein, in Gefangenschaft oder in totalitären Lebensumständen gewesen zu sein, Mindcontrol erlebt zu haben – diese Menschen sind enorm eingeschüchtert.

ZackZack: Wie reagieren die Menschen dann Ihrer Beobachtung nach darauf?

Michaela Huber: Es ist erstaunlich, wie brav die Leute sind, und wie sehr sie sich auch tatsächlich einschüchtern lassen. Wir sind in unseren westlichen Nachkriegs-Gesellschaften ja eher gehalten, einen lebendigen, demokratischen Diskurs über beste Strategien – was ist gut, was ist nicht gut – zu führen. Und wir erleben jetzt, dass viele Menschen in eine Unterwerfungsposition, ja in vorauseilenden Gehorsam gegangen sind – sie wünschen sich noch mehr, noch schärfere Maßnahmen in diesem „Krieg gegen das Virus“. Egal, wie schlecht es ihnen selbst darunter geht, sie halten die Situation aus, und sie unterwerfen sich. Das kann man mit Menschen vielleicht ein paar Wochen lang machen, kaum monatelang, aber auf gar keinen Fall jahrelang, ohne dass es zu schwersten gesellschaftlichen Verwerfungen kommt. Nicht nur, weil die Menschen ökonomisch in die Krise kommen, sondern auch, weil sie psychologisch unter so enormen Druck kommen, dass Zustände in der Gesellschaft, die ohnehin da sind – Spaltung, Ausgrenzung, Unterdrückung, bis hin zu antidemokratischen Zuständen – zu befürchten sind, wenn solche Zustände lange andauern.

Michaela Huber: Autoritäre Regime saugen im Moment Honig aus dieser Situation. Selbst der chaotische Herr Trump, der sich eigentlich für jeden Menschen erkennbar unerträglich irrlichternd in der Krise verhalten hat und das immer noch tut – Orban und viele andere, wir haben ja auch so einen bayrischen Möchtegern-Kanzler – sie alle sind im Moment populär. Denn der starke Mann, der „Führer“, hinter dem man sich jetzt versammeln muss, ist eine Vorstellung, die tatsächlich in der Bevölkerung so fest verankert ist, dass sie automatisch wieder „fröhliche Urständ“ feiert. Selbst in der jungen Generation tauchen plötzlich Vorlieben für Autorität und eifriges Gehorchen auf. Das erfahre ich immer wieder von Menschen, die sich eingeschüchtert fühlen, aber innerlich aufbegehren und sich fragen: Was ist das hier? Was geschieht hier mit unserer multipluralen, kreativen Gesellschaft? Krieg macht Menschen zu Untertanen. Man sieht, dass, wo diese Kriegsmetapher bewusst geschürt wird, die Seuchen- und gar die Notstandsgesetze den Regierungschefs noch mehr Macht verschaffen. Ich halte das politisch für eine sehr gefährliche Situation, in der Demokraten in einer Zivilgesellschaft sehr aufpassen müssen. Das gleiche gilt für die Tracking-Apps. Noch sind sie anonymisiert. Aber es ist ganz klar, die Strategie dieser Apps ist, Kranke persönlich zu identifizieren und jene, mit denen sie Kontakt hatten – um diese Menschen dann ebenso persönlich unter Quarantäne zu stellen. Das heißt, die Apps müssen personalisiert werden über kurz oder lang. Das sollte jeder wissen, der heute überlegt, sich eine Tracking-App anzuschaffen. Hier schlagen Datenschützer wieder einmal Alarm, und das zu Recht. Wir haben noch in vielen Bereichen bei uns eine demokratische Gesellschaft, die so etwas vielleicht verkraftet, zumindest vorübergehend. Aber was ist, wenn die Regierung nicht mehr eine demokratische ist? Da gilt es doch, aufzupassen.

ZackZack: Wie hätten Sie sich die Maßnahmen anders gewünscht?

Michaela Huber: Wir hätten zum Beispiel sehr alte Menschen und solche mit geschwächtem Immunsystem sofort massiv schützen müssen, als klar war, dass das Virus diese Gruppen besonders gefährdet. Anstatt sie gut zu versorgen und sie besonders zu schützen, hat man erst wochenlang zugesehen, wie sich von China aus das Virus ausbreitet. Dann hat man zu radikalen Shutdown-Maßnahmen für die ganze Gesellschaft gegriffen und die besonders Gefährdeten ohne besonderen Schutz gelassen oder gar nicht beachtet. Jetzt, in der Exit-Strategie, kommt erst die Idee auf: Aha, wir könnten die Gesellschaft wieder aufmachen, wenn wir diese Gruppe besonders schützen. Das hätte man von Anfang an machen sollen, und man hätte auf gar keinen Fall die ganzen Hilfsstrukturen wie Kliniken – außer Intensivstationen -, Betreuungseinrichtung, Beratungsstellen, Praxen etc. sofort runterfahren dürfen. Viele psychosomatische und andere Kliniken bekommen viel Geld dafür, dass sie praktisch leer sind, um Betten für möglicher Weise notwendig werdende Beatmungsplätze frei zu machen. Wer in der Gesellschaft verletzlich war, ist es jetzt erst Recht.

aus: https://zackzack.at/2020/04/11/wir-muessen-die-kritischen-stimmen-jetzt-hoeren-psychologin-im-interview/