Selbstbestimmung statt technische Machbarkeit

Palliativmediziner zu COVID-19-Behandlungen
„Sehr falsche Prioritäten gesetzt und alle ethischen Prinzipien verletzt“

Matthias Thöns: Na ja, die Politik hat jetzt eine sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung, auf das Kaufen neuer Beatmungsgeräte, auf Ausloben von Intensivbetten. Und wir müssen ja bedenken, dass es sich bei den schwer erkrankten COVID-19-Betroffenen, so nennt man ja die Erkrankung, meistens um hochaltrige, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von denen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen, und in Italien sind von 2.003 Todesfällen nur drei Patienten ohne schwere Vorerkrankungen gewesen. Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang immer mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus diesen ganzen Patienten Intensivpatienten.

„Es werden alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen“

Sawicki: Werden da also falsche Prioritäten gesetzt?

Thöns: Ich sehe, das sind sehr falsche Prioritäten und es werden ja auch alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen. Also wir sollen als Ärzte ja mehr nutzen als schaden. Da fragt man sich natürlich bei einer Erkrankung, wenn die schlimm verläuft, also zum Atemversagen führt, dann können wir tatsächlich nach einer chinesischen Studie nur drei Prozent der Betroffenen retten, 97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie – so eine Intensivtherapie ist leidvoll, da stimmt ja schon das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden kaum.

Sawicki: Was meinen Sie damit?

Thöns: Na ja, der Nutzen ist so, dass man nur ganz minimal wenige Patienten rettet, von denen kommen nur wenige dann auch zurück in ihr altes Leben, eine große Zahl von denen, die man rettet, nach zwei bis drei Wochen Beatmung, verbleiben schwerstbehindert. Und das sind Zustände, die lehnen die meisten älteren Menschen für sich ab. Also Eingriffe, die mit dem hohen Risiko einer bleibenden Schwerbehinderung einhergehen, die lehnen ältere Menschen eigentlich ab. Deshalb erreicht man eigentlich Therapieziele für diese Patienten nicht, das heißt, die Indikation ist schon fraglich.

Jetzt wissen wir aber, dass ganz viele Menschen, wie gesagt, so eine Behandlung ablehnen, ältere Menschen, also die ist auch gegen den Willen. Und das Prinzip Gerechtigkeit ist ja auch ein wichtiges, ethisches Prinzip, da gibt es einmal diese Problematik, dass wir natürlich eine begrenzte Zahl an Intensivbetten haben und wir irgendwann die Entscheidung treffen müssen, wird da jetzt ein hochaltriger Patient kaum mit Rettungschancen weiterbeatmet oder eben der junge Familienvater nach einem Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt. Das ist eine schwierige ethische Entscheidung. Aber es wird ja auch anders kommen, denn durch intensivmedizinische Maßnahmen, also Intubation, Beatmung, gefährden wir Medizinpersonal in hohem Maße. 100 italienische Ärzte sind gestorben. Und wenn man das mal so hochrechnet, dann rechnet man ja praktisch die Rettung eines Menschen, der kaum zu retten ist und der das meistens nicht will, gegen die tatsächliche und wirklich bestehende Gefährdung von medizinischem Personal, die ja zu Hauf leider sterben bei diesen intensivmedizinischen Prozeduren.

Sawicki: Ja, wenn ich da noch einhaken darf, woher wissen Sie denn, dass die Menschen oder dass eine bestimmte Zahl von Menschen diese Intensivbehandlung ablehnt? Was für Erhebungen haben Sie da?

Thöns: Also da gibt es einmal eine Untersuchung, dass 91 Prozent der Befragten Maßnahmen ablehnen würden, die mit dem hohen Risiko einer Behinderung einhergehen. Und tatsächlich ist es ja so, dass die Uniklinik Aachen jetzt erste Daten herausgegeben hat, und die Haupttodesursache war da tatsächlich in dieser Untersuchung, kleinen Untersuchung, dass die Patienten die Beatmung selber abgelehnt haben, wohl wissend, dass sie dadurch sterben können.

Sawicki: Das heißt, was sollte man stattdessen tun jetzt in den kommenden Wochen?

Thöns: Ja, man sollte die Patienten tatsächlich ehrlich aufklären, dass Intensivmedizin nur mit minimalen Rettungschancen bei hoher Leidenslast durch die Intensivmedizin einhergeht, und fragen, möchten Sie das so, möchten Sie isoliert von Ihrer Familie, getrennt, die nicht mehr sehen, am Lebensende beatmet auf einer Intensivstation liegen, oder möchten Sie vielleicht doch lieber mit dem Risiko, dass Sie das nicht überleben, zu Hause bleiben, gut leidensgelindert? Und ich sage Ihnen, die meisten alten Menschen werden diesen zweiten Weg gehen, wenn man denen das ehrlich sagt.

aus: https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche.694.de.html?dram:article_id=474488