Kapitalistische Mythen: Konkurrenz

Konkurrenz oder Kooperation? Das ist die entscheidende Frage

Die Ansicht, der Mensch sei von Natur aus ein Wesen, das konkurrenzorientiert ist und seine beste Leistung in einer Konkurrenzsituation erzielt, erscheint als eine Gewissheit, die keines Beweises bedarf. Was aber sagt die Wissenschaft?

Das Belohnungszentrum des menschlichen Gehirns reagiert positiv auf Situationen und Eigenschaften, die der Natur des Menschen entsprechen, und versucht mittels Ausstoßes von Dopamin sicherzustellen, dass die entsprechenden Handlungen auch tatsächlich durchgeführt werden. Daher sollte eine Untersuchung des Belohnungszentrums Aufschluss darüber geben, ob der Mensch von Natur aus eher nach Konkurrenz oder Kooperation strebt.

Tatsächlich zeigen eine Reihe von Experimenten, dass das Belohnungszentrum bei menschlicher Kooperation aktiv wird, nicht aber in einer Konkurrenzsituation. Es ist nicht nur aktiv, wenn wir kooperieren, sondern auch wenn andere mit uns kooperieren.

Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie an der Universität Freiburg, resümiert daher:

Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen.


Bereits ein Blick auf ein Neugeborenes spricht Bände. Bekanntlich kann ein Mensch nach seiner Geburt nur äußerst kurz Zeit alleine überleben. Die allererste und grundlegende Erfahrung des Menschen ist deshalb: Er muss unbedingt kooperieren, um zu überleben. Kooperation ist sein Lebensmodus. Das Verhalten einjähriger Kinder bestätigt zudem, dass der Mensch von Natur aus nach Kooperation strebt. Kleinkinder bevorzugen Personen, die sich kooperativ verhalten, und bringen ihnen mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung entgegen.

Auch das Verhalten des Kleinkindes steht im Zeichen von Kooperation. Matthieu Ricard, promovierter Zellgenetiker und weltbekannter buddhistischer Mönch, fasst den Forschungsstand wie folgt zusammen: Die „Verhaltensweisen der Kooperation und der selbstlosen Hilfe treten beim Kind spontan auf. Diese Verhaltensweisen treten sehr früh auf – im Alter von vierzehn bis sechzehn Monaten -, lange bevor die Eltern ihren Kindern die Regeln sozialen Verhaltens eingebläut haben und sie werden nicht durch äußeren Druck verursacht. In unterschiedlichen Kulturen treten sie zudem in der gleichen Altersstufe auf.“

Die Überzeugung, auf die der Kapitalismus aufbaut, der Mensch sei von Natur aus ein konkurrenzorientiertes Wesen, stellt sich somit als Mythos heraus. Bevor wir die Frage betrachten, ob die zweite Überzeugung des Kapitalismus, Konkurrenz sei der beste Motivator, tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sei der Fokus hier kurz auf ein Thema gerichtet, das bei der Reflexion über das Wesen der Konkurrenz gerne leicht unter den Tisch fällt: Wie wirkt sich Konkurrenz auf die Psyche der Menschen aus? Insbesondere auf ihr Selbstwertgefühl, auf zwischenmenschliche Beziehungen?

Alle verlieren

Es bedarf keiner Erklärung, dass Niederlagen und Scheitern am Selbstwertgefühl nagen. Dies ließe sich vielleicht noch achselzuckend mit dem Hinweis ignorieren, es könne halt nur einen Sieger geben und die Spreu müsse vom Weizen getrennt werden, um die wirkliche Elite herauszufiltern. Erstaunlich jedoch, dass die Mutmaßung, Erfolg steigere das Selbstwertgefühl, alles andere als unbestritten ist. Tatsächlich ist die Beweislage in der wissenschaftlichen Forschung hierzu „enttäuschend schwach“. Hinzu kommt auch, dass hyperkompetitive Menschen „stark narzisstisch“ sind und über „ein geringes Selbstwertgefühl“ verfügen. Daher schreibt Alfie Kohn pointiert:

Konkurrenz ist für das Selbstwertgefühl wie Zucker für die Zähne.

Aus Mitmenschen werden Konkurrenten

Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen sind durch die immer stärkere Präsenz der Konkurrenzsituation belastet. Im Alltag der Konkurrenz werden aus Mitmenschen Gegner, denn diese sind nichts anderes als Hindernisse zum eigenen Erfolg, die es zu überwinden gilt. Sei es in der Schule, in der Ausbildung, an der Universität oder bei der Arbeit.

Eine Übersicht zahlreicher Experimente und Studien sollte zu denken geben:

  • Konkurrenz erhöht das Misstrauen zwischen den Menschen und reduziert Empathie.
  • Konkurrenz erhöht die Aggressivität. Interessanterweise ist das Ergebnis dabei davon unabhängig, ob die Kindern den Sieg davontragen oder geschlagen werden.
  • Konkurrenz kann Kindern das Gefühl geben, nicht Herr des eigenen Schicksals zu sein.
  • Konkurrenz wird als frustrierend empfunden. Auch hier ist dies unabhängig vom Ergebnis. Dieses Paradox löst sich umgehend auf, wenn man berücksichtigt, dass der Wettkampf für Kinder als Bedrohung empfunden wird, weil immer auch die Ungewissheit des Ausgangs herrscht und stets eine Niederlage droht.
  • Konkurrenz stiftet Angst und Unsicherheit. Zum einen natürlich die Angst vor der Niederlage. Zum anderen aber paradoxerweise auch die Angst vor dem Sieg. (Beispiele von Sportlern, die im Angesicht des sicheren Sieges plötzlich versagen, gibt es viele – der berühmte „Wackelarm“ beim Tennis).

Alfie Kohn findet einmal eine pointierte Zusammenfassung:

Wenn wir zwischenmenschliche Beziehungen sabotieren wollten, hätte uns kaum etwas Besseres als Konkurrenz einfallen können.

All die aufgeführten und belegbaren Argumente gegen Konkurrenz könnten zumindest in gewisser Hinsicht aufgewogen werden, wenn sich zumindest ein Credo des Kapitalismus in der Wirklichkeit nachweisen ließe: dass die Konkurrenzsituation zu besseren Leistungen führe.

Ein grundlegender Gedankengang zeigt bereits auf, weshalb Konkurrenz in vielen Situationen gar nicht zur besten Leistung des Einzelnen führen kann. Die Motivation in der klassischen Konkurrenzsituation (die wir in verschiedenen Sportarten exemplarisch antreffen) ist extrinsisch. Ebenso die Zielsetzung. Der Psychologe Edward L. Deci (Universität Rochester) warnt daher, dass Menschen in einer Konkurrenzsituation der Frage, wie sie den anderen übertrumpfen und gewinnen können, vielmehr Aufmerksamkeit widmen als dem Streben nach einer bestmöglichen Lösung der Aufgabe.

So sicher die Gewissheit im Kapitalismus ist, der Mensch sei von Natur aus ein konkurrenzorientiertes Wesen und folglich am besten durch Konkurrenz zu motivieren, so sicher stellt eine genauere Analyse heraus, dass es sich hierbei schlicht um passende Mythen handelt. Aber es sind sehr mächtige Mythen, denn der Wettbewerbsgedanke erfasst immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens. Besonders bedenklich hierbei der Wettbewerb zwischen Schulen, Universitäten und Krankenhäusern. Daher ist es von existentieller Wichtigkeit, die Rahmenbedingung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, die heute fast ausschließlich auf Konkurrenz gestellt sind, zu überdenken und zu verändern, damit sie tatsächlich der Natur des Menschen entsprechen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr von der Universität Zürich formuliert eine zentrale Erkenntnis: „Wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen kooperieren, dann ist die Kooperation jedes Einzelnen hoch; wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen nicht kooperieren, dann kooperiert tatsächlich keiner.“ Wir haben also die Wahl, ob wir der Kooperation, die der Natur des Menschen viel stärker entspricht als die Konkurrenz, Tür und Tor öffnen wollen, damit immer mehr Menschen kooperieren oder ob wir weiterhin auf Konkurrenz setzen und dadurch mögliche Kooperation zerstören.

aus: https://www.heise.de/tp/features/Konkurrenz-oder-Kooperation-Das-ist-die-entscheidende-Frage-4647091.html?seite=all