Arbeiten in der Tabuzone
Ärztinnen stehen wegen angeblicher Abtreibungswerbung vor Gericht. Selbsternannte „LebensschützerInnen“ sammeln sich vor Arztpraxen, belästigen Patientinnen, belagern Pro-Familia-Beratungsstellen. Ist das einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft würdig?
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Seit 2003 hat die Anzahl der ÄrztInnen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, bundesweit um mehr als 40 Prozent abgenommen: 2003 waren es noch 2050 Praxen und Krankenhäuser, die Abbrüche gemeldet haben, 2019 nur noch 1152, teilte das Statistische Bundesamt auf Anfrage mit. Das ist drastisch. Beratungsstellen wie Pro Familia weisen ihre Landesregierungen und Gesundheitsministerien, die in dieser Frage ein ausreichendes Angebot an Praxen und Kliniken sicherstellen müssen, immer wieder erfolglos auf die zunehmende Unterversorgung vieler Regionen in Deutschland hin. Zu beobachten ist dabei ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Angespannt ist die Lage nicht in Großstädten wie Hamburg oder Berlin, dafür aber besonders im konservativeren Süden der Republik.
„LebensschützerInnen“ agieren immer aggressiver
Schwangerschaftsabbrüche sind laut Paragraph 218 des Strafgesetzbuches nach wie vor Tötungsdelikte, die nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleiben. Die Gesetzeslage allerdings hat sich in dieser Zeitspanne nicht verändert.
Dass immer weniger ÄrztInnen Abbrüche durchführen, dürfte vor allem am gesellschaftlichen und politischen Klima liegen: Wie in den USA oder Polen gibt es auch hierzulande gut organisierte christliche FundamentalistInnen, die sich weltweit immer enger vernetzen und sich immer aggressiver zu Wort melden. Ihre Ideologie in Sachen Schwangerschaftsabbruch unterscheidet sich nicht von jener der Neuen Rechten. Da lässt sich kooperieren. Schließlich propagiert auch die AfD ein reaktionäres Familienbild, wonach deutsche Frauen vor allem eines sollen: deutsche Kinder gebären.
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Hinzu kommt, dass ÄrztInnen in der Ausbildung sich selbst Seminare organisieren müssen, um wenigstens Grundkenntnisse zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu erlangen. Denn die Universitäten bringen ihnen gar nichts oder zu wenig darüber bei. Durch die Medien gingen Anfang vergangenen Jahres die „Papaya-Workshops“, in denen Berliner StudentInnen in ihrer Freizeit die gängige Absaugmethode an tropischen Früchten üben, weil Schwangerschaftsabbruch kein Bestandteil des Medizinstudiums an der Berliner Charité, Europas größter Uniklinik, ist.
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Die Abänderung des Paragraphen 219a, die im März 2019 in Kraft trat, wurde letztlich ein fauler Kompromiss: ÄrztInnen und Kliniken dürfen darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Mehr aber auch nicht. Zudem soll eine von der Bundesärztekammer zentral geführte Liste mit ÄrztInnen und Kliniken, die Abbrüche vornehmen, im Netz verfügbar sein. Aber diese Liste ist nur schwer zu finden, dazu unvollständig, weil die Aufnahme freiwillig ist. Wer trägt sich im derzeitigen gesellschaftlichen Klima da schon ein? „In Baden-Württemberg sind es gerade mal zehn ÄrztInnen von etwa hundert“, sagt Marion Janke. „Diese Liste hilft niemandem.“ Für sie bestätigt die Gesetzesänderung noch einmal das Informationsverbot, das sie für „absolut unärztlich“ hält: „Wenn man einen Eingriff macht, muss man doch darüber informieren dürfen. Welcher Arzt, welche Ärztin käme auf die Idee, für einen Abbruch zu werben?“
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Deshalb hält Janke auch von der Zwangsberatung nicht viel. „Beratung unter Zwang ist keine Beratung. Frauen brechen ja nicht leichtfertig ab. Das Frauenbild, das dahinter steht, macht mich wütend. Wer denkt sich aus, dass man Frauen zwangsweise beraten muss, damit sie die richtige Entscheidung treffen?“ Gerade die Erfahrungen in den Ländern mit sehr liberalen Regelungen wie etwa Kanada bewiesen, dass die Strafandrohung keinen Einfluss habe auf die Abbruchsrate. Ungewollte Schwangerschaften verhindere man vielmehr, in dem man Verhütungsmittel niederschwelliger und kostenfrei zur Verfügung stelle, für flächendeckende sexualpädagogische Aufklärung und ein gutes Beratungsangebot auf freiwilliger Basis sorge, sagt Janke. „Auf jeden Fall: weg mit diesem Strafgesetz!“
aus: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/458/arbeiten-in-der-tabuzone-6438.html