Der französische Staat und sein Knüppel: Gewalttäter Polizei

Neue Gummigeschosse sind schon bestellt

Der zerschmetterte Schädel, den Laurent Thines an diesem Tag auf seinem Operationstisch sah, erinnerte den Chirurg an Verunglückte bei einem Autounfall. Der Arzt aus dem ostfranzösischen Besançon behandelt seit Wochen Demonstrierende, Gelbwesten und auch einfach nur Passanten, die von Polizeigewalt betroffen sind. Darunter seien auch Menschen, denen ein Gummigeschoss das Auge zerstörte, erzählt Thines. Das Ausmaß der Gewalt lässt sich in einer Statistik des Journalisten David Dufresne ablesen: 25 Menschen verloren Augen, fünf Hände, hunderte wurden schwer verletzt. Die meisten Opfer sind Demonstrierende, aber Dufresne listet auch mehr als hundert Journalisten, 46 Minderjährige und 70 Passantinnen, die von einem Schlagstock, einer Granate oder einem Gummigeschoss getroffen wurden.

„Diese staatliche Gewalt an Menschen, die für ihre soziale Sicherheit demonstrieren, muss aufhören“, sagt Chirurg Thines. Nach dem Gespräch schickt er Röntgenaufnahmen von Opfern, die seine Kollegen ihm sendeten: Bilder von löchrigen und zertrümmerten Schädeln etwa, von blutüberströmten und narbigen Gesichtern.

In diesen Tagen gehen wieder Tausende auf die Straße, um gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron zu demonstrieren. Thines fürchtet, dass wieder viele Menschen Hände und Augen verlieren werden. Dass die französische Polizei wieder schwer bewaffnet sein wird, dass sie wieder Gummigeschosse und Blendgranaten einsetzt. Ende November hat das Innenministerium offiziell einen Großauftrag für die „LBD“-Gummibälle ausgeschrieben. Sie werden mit mehr als 300 Stundenkilometer abgeschossen – laut Thines ist der Aufprall auf dem Körper so hart, als ließe man einen 20 Kilogramm schweren Betonklotz aus einem Meter Höhe auf den Kopf fallen. Die Blendgranaten setzt die Polizei ein, um eine Demonstration aufzulösen oder zu zerstreuen.

Die Bundesregierung, die zusammen mit Frankreich Gewalt gegen Protestierende in Russland oder Hongkong anprangert, hat noch kein Wort über die französische Polizei verloren. Auch in den deutschen Medien las man bislang wenig dazu. „Sie wollen nicht wahrhaben, dass Frankreich eine autoritäre Wende vollzogen hat“, urteilt Chirurg Thines. Seit drei Jahrzehnten behandelt er Opfer von Gewalt in seinem Operationssaal und immer mal wieder auch verletzte Demonstrierende. „Aber noch nie habe ich so viele für ihr Leben gezeichnete Menschen gesehen wie in den vergangenen Monaten.“

Gegen die nächste größere Demonstration am 8. Dezember 2018 wollte die Regierung deswegen mit aller Härte vorgehen. „Geht auf sie los, ohne Rücksicht auf Verluste, schlagt sie nieder, das wird die folgenden Demonstrierenden abhalten“, zitiert die Le Monde einen Kommandanten der Polizei. Panzer rollten auf der Champs-Élysée, 1.100 Menschen wurden festgenommen, mehr als hundert verletzt, vier Menschen verloren ihr Augenlicht, eine 20-jährige Studentin, ein Theatermitarbeiter, ein Busfahrer und ein 26-jähriger Grafiker. Am Ende des Tages lobte Macron die Beamten in einem Tweet für „ihren Mut und ihre Professionalität“.

aus: https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/polizeigewalt-frankreich-gelbwesten-demonstrationen-proteste-ausschreitungen/komplettansicht