Demokratie

Parlamentarische Demokratie als patriarchaler Rohrkrepierer

Das große Geheuchel der „bürgerlichen Mitte“-Parteien über die Thüringer Ministerpräsidentenwahl oder warum Feministinnen Macht ablehnen müssen

Herr Kemmerich von der FDP lässt sich mit freundlicher Unterstützung der AfD zum Thüringischen Ministerpräsidenten wählen – so weit so demokratisch. Das Geschrei der Gralshüter der Demokratie ist groß. Wie sie sich alle echauffieren, die Kevin Kühnerts, die AKKs, die Göring-Eckardts – die anständigen, wahren Demokratinnen! Von Tabu- und Dammbruch ist die Rede. Vertrauensfragen werden gestellt, Blumensträuße fliegen auf den Boden. Die Aufregung geht weiter: Kemmerich will trotz Shitstorms nicht sofort zurücktreten, menno. Aber warum sollte er auch? Wurde er etwa nicht ganz rechtmäßig mithilfe der zweit- und drittstärksten Parteien in sein Amt befördert? Wo wurde denn hier gegen die ach so fortschrittlichen demokratischen Regeln verstoßen? Oder gilt Demokratie immer nur dann, wenn einem das Ergebnis passt?

Parlamentarismus heißt Macht

Seien wir doch mal ehrlich: Das eigentliche Problem ist nicht, dass sich ein Hardcore-Liberaler mithilfe von Neo-Faschisten zum Ministerpräsidenten wählen lässt. Das echte Problem beginnt viel früher, sitzt viel tiefer und heißt Macht. Sie infiltriert in ihren verschiedenen Ausprägungen und Symptomen – Autorität, Hierarchien, Konkurrenz, Leistungsdruck, Geld, Eigentum, Diskriminierungen – unsere gesamte Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür. Wir sehen zu, wie sie schon unsere Kinder charakterlich ruiniert, und unternehmen dennoch nichts gegen sie, gehört sie doch so sehr zur Normalität, die man nicht in Frage stellt. Macht mag in einer parlamentarischen Demokratie etwas subtiler und freundlicher daherkommen als in einer Diktatur, zerstörerisch ist sie dennoch. Und das merken die Menschen, umso eher, je schlechter es ihnen geht, je tiefer sie stehen in der Hackordnung.

Systemwechsel heißt Aufgabe der parlamentarischen Demokratie

Wir entschuldigen hier keine AfD-Wähler, wir entschuldigen aber genauso wenig die Wählerinnen anderer Parteien. Sie wären alle besser als Systemboykottierer zu Hause geblieben oder hätten auf der Straße die Revolution eingeläutet für eine andere Form des Zusammenlebens, den Systemwechsel. Die parlamentarische Demokratie ist eine Macht-Ordnung, die Mitbestimmung in Form freier Wahlen vorgaukelt. Wir dürfen aussuchen, wer uns zukünftig fremdbestimmt und können frei wählen zwischen Pest oder Cholera, eitel oder dummdreist, größeres oder kleineres Übel, schlimm-schlimmer-am schlimmsten. Das Ergebnis steht schon immer vorher fest: Wir fahren diesen Planeten vor die Wand, mal schneller, mal langsamer, mal mit, mal ohne Antisemitismus. Mal bürgerlich-mittig (ehemals linke Parteien bezeichnen sich selber ja schon gar nicht mehr als links), mal konservativ, mal realpolitisch, mal neoliberal, völkisch-national oder multikulti – aber immer kapitalistisch-ausbeuterisch, regiert. Die fortschrittlichste Form des Zusammenlebens: die parlamentarische Demokratie! Hurra!

Doch spätestens mit dem eingeläuteten Ende des Kapitalismus – die Erde zeigt uns, wer hier am längeren Hebel sitzt – bröckelt auch die scheinheilige Fassade dieser höchst entwickelten Zivilisationsform. Mit dem Kapitalismus werden auch die parlamentarischen Demokratien sterben. Da sollten wir eigentlich nachhelfen und vorbereitet sein für den Systemwechsel. Und hier sind wir beim einfallslosen, bürgerlichen Feminismus, der Gleichberechtigung fordert für Frauen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, beim Geld und überall, also Macht, und das radikal findet. Und dann? Wird die Welt dann besser? Sind wir das Patriarchat dann los? Oder ein Teil dessen, mit ihm verschmolzen in all seinen Bastionen?

Radikalfeminismus heißt Abkehr von Macht

Unser Problem sind nicht Männer, sondern Macht, die auf uns ausgeübt wird, zwar mehrheitlich von Männern, aber dank Emanzipation auch immer mehr von Frauen – die Chefin, die Vermieterin, die Richterin – sowie in subtiler Form, weil unpersönlich, von aus Menschenhand gemachten Institutionen wie dem Markt, einer Behörde, staatlichen Gesetzen etc. Wenn Feminismus bedeutet, sich aus männlicher Macht zu befreien, dann darf der Feminismus vor anderen personellen oder institutionellen Mächten keinen Halt machen und erst recht nicht selber Macht anstreben. Zumal Macht, das liegt in ihrer Natur, sowieso immer nur wenigen vorbehalten ist. Es kann nur eine Germany’s next Top… äh Chefin werden. Es gilt also, die Systemfrage zu stellen. Und die bedeutet nicht die Forderung eines gleichberechtigten Zugangs zu Macht, sondern im Gegenteil die Abkehr von Macht. Mit der zutiefst konservativen Forderung nach Gleichberechtigung in einem patriarchalen Gesamtwerk ohne Systemwechsel im Blick begeben wir uns auf dem Holzweg in die Sackgasse.


aus: https://dieschoenenrosen.blog/2020/02/14/parlamentarische-demokratie-als-patriarchaler-rohrkrepierer/